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Renee Esterhaus lugte aus Zimmer vierzehn der Flamingo Motor Lodge, die an der Kreuzung zwischen dem Highway 37 und einer Straße ins Nirgendwo lag. Sie fröstelte leicht in der frischen Oktoberluft. Nervös schaute sie sich nach links und rechts um, ob sich jemand auf dem Gehweg vor den Zimmern aufhielt, dann blickte sie zum Parkplatz und dem dichten Kiefernwald hinüber. Alles schien ruhig zu sein. Keine verdächtigen Leute. Keine Autos, die vorher nicht hier gewesen waren. Keine Hubschrauber am Himmel, die sich bereitmachten, ein Einsatzkommando der Polizei abzusetzen.

Nichts. Nur die leichte Abendbrise, die durch die Bäume rauschte.

Sie schlüpfte durch die Tür nach draußen, die sie ein Stück offen stehen ließ, und huschte dann zum Snackautomaten im Gang zwischen ihrem Zimmer und der Rezeption des Motels. Sie bemühte sich, völlig ruhig zu bleiben. Ganz gleich, was sie getan hatte - es war ziemlich unwahrscheinlich, dass man deswegen ein Einsatzkommando schickte.

Sie steckte zwei Vierteldollar in die Maschine und hielt den dritten noch in den Fingern, als sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie erstarrte, die Hand mit der Münze wenige Zentimeter vom Einwurfschlitz entfernt, dann schluckte sie und blickte sich über die Schulter um.

Nichts.

Renee stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht überall Gespenster sah.

Wenn ihr Toyota nicht den ungünstigsten Moment gewählt hätte, den Geist aufzugeben, wäre sie niemals in diesem dreckigen kleinen Motel gelandet. Und sie hätte nicht ständig das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Sie betete, dass der Mechaniker von der Tankstelle sein Versprechen hielt und gleich morgen früh eine neue Benzinpumpe einbaute. Dann konnte sie sich wieder auf den Weg machen. Dann wäre sie New Orleans, Louisiana, wieder ein Stück näher und Tolosa, Texas, wieder ein Stück ferner.

New Orleans. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich diese Stadt ausgesucht hatte. Außer dass es dort jede Menge Restaurants gab, in denen sie problemlos einen Job bekommen würde. Und sie hoffte, dass das dunkle Geheimnis dieser Stadt es ihr irgendwie ermöglichte, die alte Identität abzulegen und eine neue anzunehmen. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wie man es anstellte, zu einer anderen Person zu werden, aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Morgen würde sie den Wagen holen, losfahren und dann überlegen, wie es weiterging.

Sie steckte den Vierteldollar in den Automaten, drückte auf einen Knopf, und die Maschine spuckte ihr Abendessen aus - eine Packung Erdnussbutterkekse. Sie bückte sich und zog den Snack aus dem Schlitz. Als sie sich wieder aufrichtete, schlang sich ein Arm um ihre Taille, und etwas Kaltes und Hartes drückte sich gegen ihren Unterkiefer.

»Du hast deinen Gerichtstermin verpasst, Süße.«

Unvermittelt wurde sie herumgewirbelt und schlug mit dem Rücken gegen den Snackautomaten. Das kalte, harte Ding - eine Pistole - berührte nun ihren Hals. Und genau vor ihr stand der größte, hässlichste und bedrohlichste Mann, den sie jemals gesehen hatte. Er musste auf die fünfzig zugehen, aber seine Muskeln waren durch kein einziges Gramm Fett gepolstert. Sein Schädel war kahl geschoren. Die morbiden Tattoos und ein goldener Ohrring verliehen ihm etwas Finsteres und beinahe Wahnsinniges.

»W-wer sind Sie?«, stammelte sie.

Seine Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Max Leandro. Offizieller Kopfgeldjäger. Deine Glückssträhne ist zu Ende.«

Es dauerte einen Moment, bis Renee seine Worte verarbeitet hatte. Dann schwappte eine riesige Welle der Panik über sie hinweg. Sie hatte die ganze Zeit nach Polizisten Ausschau gehalten, und sie hatte angenommen, dass sie sich mit Blaulicht, Sirenen und Bluthunden ankündigen würden. Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, von einem zwei Tonnen schweren Kopfgeldjäger geschnappt zu werden, der aussah, als könnte er im Liegen einen Buick stemmen.

Er stopfte die Waffe in den Hosenbund seiner Jeans, hielt ihre Unterarme fest und legte ihr Handschellen an. Halb führte, halb zerrte er sie durch den Gang und brachte sie zu seinem alten Jeep Cherokee, den er auf der Westseite des Motels abgestellt hatte.

»Nein!«, protestierte Renee und versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien. »Bitte nehmen Sie mich nicht mit! Bitte!«

»Tut mir Leid, aber ich habe keine andere Wahl. Im Gefängnis soll eine große Party steigen, und dein Name steht ganz oben auf der Gästeliste.«

»Einen Moment!« Sie blickte über die Schulter zurück. »Was ist mit meinen Sachen? Sie können doch nicht einfach ...«

»Natürlich kann ich.«

Er riss die Fahrertür auf und schob sie auf den Beifahrersitz, dann stieg er in den Jeep. Er zündete sich eine Camel an, steckte eine Metallica-Kassette in den Recorder und verließ den Parkplatz des Motels.

Renee starrte auf die Armaturen, schockiert, fassungslos und zutiefst besorgt. In weniger als zwei Stunden wäre sie wieder in der Obhut der Polizei von Tolosa. Und dann würde man sie bestimmt kein zweites Mal gegen Kaution freilassen.

Sie funkelte Leandro wütend an. »Wie haben Sie mich gefunden?«

»Ganz einfach, Süße. Ich bin der Beste.«

Mist. Warum hatte sich nicht ein Kopfgeldjäger an ihre Fersen geheftet, der mit dem schlechtesten Notendurchschnitt seines Jahrgangs von der Schule abgegangen war?

Sie prüfte die Handschellen, indem sie zweimal heimlich daran zerrte, aber sie gaben kein Stück nach. Also versuchte sie, zunächst eine Bestandsaufnahme ihrer gegenwärtigen Lage zu machen. Der Türgriff auf der Beifahrerseite fehlte. Als sie sich umschaute, erkannte sie, dass die Hintertüren auf die gleiche Art präpariert waren. Wie es schien, war Plan A - aus dem fahrenden Wagen springen - nicht durchführbar.

Also musste sie auf Plan B ausweichen. »Sie begehen einen schrecklichen Fehler«, sagte sie. »Ich bin unschuldig. Sie wollen doch keine unschuldige Frau ins Gefängnis bringen, oder?«

Er schnaufte verächtlich. »Unschuldig? Dass ich nicht lache! Man hat dich mit der Beute und der Tatwaffe erwischt.«

»Nun ja ...«

»Die ältere Dame, die überfallen wurde, sagte, es sei eine Frau mit blonden Haaren gewesen.«

»Es gibt Tausende von Blondinen ...«

»Sie hat dich bei einer Gegenüberstellung erkannt.«

»Ich weiß nicht, wie sie ...«

»Und dann deine Vorstrafen.«

Renee setzte sich kerzengerade auf. »Woher wissen Sie davon?«

Leandro grinste sie süffisant an. »Ich kenne da so einige Mittel und Wege.«

»Das waren Jugendstrafen! Ich dachte, diese Akten werden unter Verschluss gehalten!«

»So ist es. Aber die Lippen eines Bullen öffnen sich leichter als ein Aktenschrank. Als man dich wegen des bewaffneten Raubüberfalls auf die Wache brachte, weckte dein blondes Haar einige Erinnerungen.« Leandro grinste. »Es war ein Fehler, einem Bullen Bier auf die Schuhe zu kippen, Renee. So etwas vergessen die Jungs nie.«

O nein! Renee vergrub das Gesicht in den Händen, als sie sich an die peinliche Geschichte erinnerte. Die Einzelheiten jener Nacht waren in ihrem Gedächtnis etwas verschwommen, aber sie wusste noch, dass sie wütend geworden war, als ein Polizist sie darauf hingewiesen hatte, es sei vielleicht keine gute Idee, mit ihren Freunden um ein Uhr morgens minderjährig und sturzbesoffen durch die Stadt zu ziehen. Sie hatte ihre Meinung zu seiner Bemerkung kundgetan, indem sie ihr Bud Light über seinen blitzblanken Schuhen ausgeleert hatte. Damit hatte sie die Eintrittskarte zum städtischen Gefängnis gewonnen. Aber nicht die erste.

»Wie konnte er sich daran erinnern?«, fragte Renee. »Das ist schon über acht Jahre her!«

»Ich schätze, du bist einfach unvergesslich, Süße. Vor allem, wenn man sich deine weiteren Vorstrafen zu Gemüte führt. Ladendiebstahl, Vandalismus, Spritztouren mit gestohlenen Autos ...«

»Aber seitdem war ich sauber!«

»Einmal Verbrecher, immer Verbrecher.«

Sie wünschte sich, sie hätte jedes Mal, wenn sie diese Worte gehört hatte, einen Nickel bekommen, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte.

Mit siebzehn hatte man sie zusammen mit ihrem Freund in einem gestohlenen Auto erwischt. Der Richter hatte es satt gehabt und sie in eine Jugendstrafanstalt gesteckt. Ihre Mutter hatte sich gerade so lange ausgenüchtert, um an der Verhandlung teilnehmen zu können. Anschließend war sie nach Hause gegangen, hatte eine neue Flasche Jim Beam aufgemacht und auf den Richter getrunken, weil endlich jemand anderem die Verantwortung für die Tochter übertragen worden war, um deren Erziehung sie sich kaum gekümmert hatte.

Nach etwa drei Monaten im Gefängnis waren Renee die Unannehmlichkeiten einer Haftstrafe bewusst geworden. Sie hatte nun ernsthaft in Zweifel gezogen, dass ein kriminelles Leben lebenswert war, aber sie war viel zu cool gewesen, sich anmerken zu lassen, wie sehr sie ins Schwitzen geraten war.

Noch während dieses Entscheidungsprozesses hatte sie an einem eintägigen »Angstprogramm« teilgenommen. Es bestand aus zwölf knallharten, fluchenden und schreienden weiblichen Häftlingen, die sie und ein halbes Dutzend weiterer Mädchen überzeugen sollten, dass sie auf gar keinen Fall ihr Leben hinter Gittern verbringen wollten. Renee hatte diese Lektion nie vergessen, und als man sie schließlich aus der Jugendstrafanstalt entlassen hatte, gab sie sich selbst das Versprechen, notfalls durch die Hölle zu gehen, wenn es keine andere Möglichkeit gab, sich vor einer weiteren solchen Erfahrung zu bewahren.

Es war ein langer Aufstieg von ganz unten gewesen, aber sie hatte es geschafft, auch wenn der erste Schritt darin bestanden hatte, als Kellnerin bei Denny‘s zu arbeiten. Ihre Jugendstrafen waren Geschichte - beziehungsweise hatte sie das gedacht, bis irgendein Bulle mit einem Elefantengedächtnis den Mund aufgemacht hatte.

»Ich kann diesen Überfall überhaupt nicht begangen haben«, redete sie auf Leandro ein. »Ich kann nicht einmal den Anblick einer Waffe ertragen. Es ist einfach unmöglich, dass ich ...«

»Spar dir die Mühe. Es ist mir scheißegal, ob du schuldig oder unschuldig bist. Ich bekomme mein Geld so oder so.«

Renee verzog angewidert das Gesicht. »Da haben Sie sich ja einen netten Job ausgesucht.«

»Fast so gut wie Supermärkte ausrauben.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich es nicht getan habe!«

Er lächelte. »Das sagen alle.«

Renee hätte am liebsten ihren Kopf gegen das Armaturenbrett geschlagen. Dieser Kerl war einfach blind für die Unschuld, auch wenn sie ihm in die Nase biss. Sie drehte den Kopf und starrte aus dem Seitenfenster. Die Meilen zwischen ihr und dem Gefängnis rieselten wie Sand durch ihre Finger.

Am Tag des Raubüberfalls hatte man ihr den Posten der Oberkellnerin im Renaissance angeboten, einem italienischen Sterne-Restaurant mit zahlungskräftiger Kundschaft und einem erstklassigen Weinkeller. Im Taumel der Begeisterung hatte sie ihre beste Freundin Paula Merani angerufen, um mit ihr zu feiern - und sich dann erinnert, dass Paula mit ihrem nichtsnutzigen Freund Tom Garroway eine Wochenendreise in einem Hotel in der Nähe gebucht hatte. Also ließ sich Renee ein Abendessen vom China Garden kommen, zappte durch die Fernsehkanäle und dachte an all die Dinge, die sie als Oberkellnerin tun wollte, damit das Renaissance den begehrten letzten Stern erhielt.

Dann beschloss sie, dass die Beförderung sie zu einer ausufernden Orgie berechtigte, und zwar mit einem Riesenbecher Cherry Garcia von Ben Jerry‘s. Also schnappte sie sich ihre Geldbörse und machte sich auf den Weg zum Kroger-Einkaufszentrum, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Ein Polizist winkte sie an den Straßenrand, weil ihr Rücklicht defekt war, dann sah sie fassungslos zu, wie er zwölfhundert Dollar und eine halbautomatische Pistole an sich nahm, die auf ihrem Rücksitz lagen. Zu ihrem maßlosen Erstaunen und Entsetzen stellte sich heraus, dass diese Dinge aus einem Überfall auf einen kleinen Supermarkt stammten, der sich wenige Stunden zuvor in der Nähe ereignet hatte. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, wie die Sachen in ihren Wagen gekommen waren. Der Polizist hatte sich nicht durch ihre Unschuldsbeteuerungen erweichen lassen, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, war sie im Gefängnis gelandet.

Sie ließ den besten Anwalt kommen, den sie sich mit ihren Ersparnissen leisten konnte, einen totalen Versager mit einer Krawatte, die breiter als sein Brustkorb war, und einem Fetzen Toilettenpapier am Hals, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Er gab ihr zu verstehen, dass er sie verteidigen musste, obwohl »wir beide wissen, dass Sie schuldig sind«, worauf Renee sich selbst in einer plötzlichen Rückblende sah, wie sie an einer langen Reihe von Gefängniszellen vorbeilief, deren Insassen höhnisch johlten. Ihr damaliger, acht Stunden währender Abstieg in die Hölle war zu einem großen Teil dafür verantwortlich, dass sie sich eine geordnete Existenz aufgebaut hatte, und diese Erfahrung war ironischerweise auch der Grund, warum sie jetzt auf der Flucht war. Bedauerlicherweise war sie von einem großen, bösen Kopfgeldjäger mit einem Herzen im Ausmaß einer Erbse aufgespürt worden, so dass ihr Weg sie nun wieder ins Gefängnis führte.

Renee sah sich im Jeep um. Mit diesem Fahrzeug ins Gefängnis gebracht zu werden war so, als raste man in einem New Yorker U-Bahn-Waggon in die Hölle. Zahlreiche Zigarettenkippen hatten sich auf dem Boden vor dem Vordersitz angesammelt, desgleichen mehrere Milky-Way-Verpackungen und eine Ausgabe der Zeitschrift Muscle. Auf der Rückbank lagen vollgestopfte Aktenordner und dazwischen zusammengeknüllte Tüten mit den Resten von Fastfood-Mahlzeiten. Hier roch es wie auf einer Müllkippe.

»Dieses Auto ist ein Schweinestall«, murmelte Renee. Sie hasste Leandros Jeep, sie hasste seine Musik, und sie hasste seinen Beruf. Sie hasste ihn.

Leandro nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß langsam den Rauch aus, wodurch er die karzinogene Wolke im Innenraum des Wagens mit weiteren Schadstoffen anreicherte. »Meine Putzfrau hatte diese Woche keine Zeit. Man kriegt heutzutage einfach keine guten Leute mehr.«

»Der Rauch brennt mir in den Augen. Überlegen Sie mal, was das Zeug in Ihrer Lunge anrichtet!«

»Ich denke, es macht sie schwarz wie ein Pik As.«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, diese unangenehme Angewohnheit aufzugeben?«

»Warum sollte ich auf so eine seltsame Idee kommen?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Zigarette auszumachen?«

»Ja, es würde mir sehr viel ausmachen.«

Renee wusste, dass dieses Gespräch sinnlos war, aber sie war wütend, sie hatte Angst, und sie konnte einfach nicht aufhören. »Passivrauchen kann genauso tödlich sein, wissen Sie. Erst letzte Woche haben sie in 20/20 etwas darüber gebracht.«

»Na so was! Das habe ich glatt verpasst.«

»Es ist tatsächlich vorgekommen, dass Raucher sich vor Gericht verantworten mussten, weil sie anderen Leuten die Luft verpestet haben.«

»Dann zeig mich doch an.«

»Wissen Sie, das ist gar keine schlechte Idee. Ich wette, es gibt mindestens ein Dutzend widerwärtiger Anwälte in Tolosa, die sich mit Begeisterung ...«

»Mein Gott! Ist ja gut!« Er nahm einen letzten gierigen Zug von der Zigarette, dann machte er sie im Aschenbecher aus. Die halb gerauchte Camel-Packung und das blaue Bic-Feuerzeug warf er ins Fach zwischen den Sitzen und schlug den Deckel zu. »So. Zufrieden?«

Eigentlich nicht. Wenn man es genau betrachtete, war es kaum ein Unterschied, ob man einen langsamen Lungenkrebstod starb oder die Hälfte des Lebens im Gefängnis dahinvegetierte.

Dann knurrte ihr Magen und erinnerte sie daran, dass sie so gut wie nichts mehr gegessen hatte, seit sie Tolosa hinter sich gelassen hatte. Und sie dachte an das einzige Restaurant, auf das sie hier draußen in der Wildnis stoßen konnten. Dairy Queen. Ihre Laune besserte sich ein wenig, nicht wegen des Essens, sondern weil es möglicherweise ein ausgezeichneter Ort war, um einen Kopfgeldjäger abzuhängen. Nur wie sie es anstellen wollte, wusste sie noch nicht. Das würde sie sich überlegen, wenn es so weit war. Vorausgesetzt, sie konnte ihn überreden, dort zu halten.

»Ich habe Hunger«, sagte sie.

»Kein Problem. Ich habe gehört, dass das Gefängnis über eine ausgezeichnete Kantine verfügt.«

Renee zuckte zusammen. Sie sah alles plastisch vor sich: alte, runzlige Strafgefangene mit Haarnetzen, die eine Kelle voll Schweinefraß in einen Plastikteller klatschten.

»Würden Sie es überleben, wenn wir an einem Drive-In Halt machen?« Sie schaute nach hinten und rümpfte die Nase. »Wie ich sehe, wäre es für Sie nicht das erste Mal.«

»Tut mir Leid, Süße. Dass ich die Zigarette ausgemacht habe, war schon hart an der Grenze meiner Gastfreundschaft.«

»Was ist, wenn ich mal auf die Toilette muss?«

»Was ist, wenn du versuchst, mich zum Anhalten zu überreden, weil du glaubst, dass du auf diese Weise abhauen kannst?«

Renee schnaufte beleidigt. »Sie sind ein richtiger Widerling, wissen Sie das?«

»Ja«, antwortete er mit einem entzückten Lächeln. »Das weiß ich.«

Sie funkelte Leandro wütend an, dann starrte sie wieder aus dem Seitenfenster. Sie versuchte, ihre Verachtung und den Ekel aufrechtzuerhalten, weil sie so ziemlich das Einzige waren, das sie davon abhielt, sich in ein hysterisches, schluchzendes Häufchen Elend zu verwandeln. Aus dieser Sache kam sie nicht mehr heraus. Ganz gleich, ob sie unschuldig war oder nicht, sie würde im Gefängnis landen, wo sie die besten Jahre ihres Lebens damit verbringen würde, in einer zwei mal drei Meter großen Zelle auf und ab zu gehen, nicht identifizierbare Nahrung zu sich zu nehmen und kräftig gebaute, sexuell vielseitig veranlagte Frauen davon zu überzeugen, dass sie nicht an einer engeren Beziehung interessiert war.

Sie fuhren über eine Anhöhe, und Renee sah, dass eine Eisenbahnlinie die Straße kreuzte. Als sie sich näherten, blinkten die roten Warnlichter, und die Schranken gingen herunter. Leandro trat aufs Gaspedal, um rechtzeitig hinüberzukommen, aber der Wagen vor ihnen - ein verrosteter Plymouth mit einer Behindertenplakette am Nummernschild - hatte es nicht so eilig. Obwohl Leandro mit quietschenden Reifen bremste, wäre er dem Plymouth beinahe auf die Stoßstange gefahren. Die Schranken hatten sich geschlossen und versperrten den Bahnübergang. Renee blickte nach links und rechts. Kein Zug war zu sehen.

»Fahr zwischen den Schranken durch!«, brüllte Leandro, als könnte der andere Fahrer ihn hören. Er hupte. Der ältere Mann im Wagen vor ihnen schaute in den Rückspiegel, aber der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Leandro schaltete die Automatik auf Parken und stieg aus. Die Tür ließ er offen und lehnte sich mit einem Arm aufs Wagendach, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Renee sah sich die Armaturen an, und ihr Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer.

Er hatte den Schlüssel stecken lassen.

Sie war vermutlich nicht in der Lage, schneller als Leandro zu rennen, aber sie war fest davon überzeugt, dass sie schneller fahren konnte. Wenn er beschloss, sich mit dem Typen im Plymouth zu unterhalten, schaffte sie es vielleicht ...

»Na los!«, rief Leandro. »Es kommt kein Zug!« Er langte mit einem Arm ins Wageninnere und hupte erneut. Der Plymouth machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

»Scheiße! Der Kerl hat wahrscheinlich sein Hörgerät abgeschaltet.« Leandro trat vom Wagen zurück. Renee hielt den Atem an und machte sich bereit. Wenn die Tür ins Schloss fiel, würde sie sofort auf die Fahrerseite hechten, mit einem gezielten Schlag die Tür verriegeln und ...

Plötzlich ging die Tür wieder auf. Leandro griff nach dem Schlüssel und zog ihn ab. Er drohte Renee mit einem erhobenen Zeigefinger. »Rühr dich nicht von der Stelle, hörst du? Zwing mich nicht dazu, dich noch einmal einzufangen.« Dann schlug er die Tür zu und ging zum Plymouth hinüber.

Renee versank im Beifahrersitz. Was sollte sie jetzt tun? Es gab nur eine Möglichkeit, den Wagen zu verlassen, und zwar durch die Fahrertür. Aber wenn Leandro sich alle paar Sekunden zu ihr umblickte, war ihr Spielraum erheblich eingeschränkt. Wenn sie weglief, würde er sie jagen und zu Boden werfen, wie ein Löwe, der eine Gazelle riss. Außerdem waren sie hier mitten im Nirgendwo, und es gab nichts, wo man sich hätte verstecken können. Etwa einen halben Kilometer hinter dem Bahnübergang gab es ein kleines Restaurant - aber was konnte sie mit dieser Tatsache anfangen? Sie hatte keine Chance, wenn es ihr nicht gelang, Leandro für längere Zeit abzulenken, damit sie sich einen ausreichenden Vorsprung verschaffen konnte.

Dann kam ihr plötzlich die Idee. Sie setzte sich auf, atmete schneller, und ihr Herz schlug in doppeltem Tempo. Vielleicht erwiesen sich Leandros schlechte Angewohnheiten als ihre Rettung.

Sie kramte im Konsolenfach und holte Leandros Feuerzeug heraus. Sie warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und sah, wie er heftig gestikulierend auf die Straße zeigte und redete. Aber der Alte war stur wie ein Ochse und ließ sich nicht beirren. Vielleicht zitierte er sogar die Statistik über die Häufigkeit von Unfällen an Bahnübergängen.

Sie griff nach einer zusammengeknüllten Tüte auf dem Rücksitz und spürte, wie die Handschellen in ihre Haut schnitten. Nach den Fettflecken zu urteilen, war Leandros Lieblingsmahlzeit ein dreistöckiger Cheeseburger mit einer großen Portion Pommes. Ausgezeichnet!

Sie verbarg die Tüte unter dem Armaturenbrett und machte das Feuerzeug an. Alle paar Sekunden schaute sie zu Leandro hinüber, um sicherzugehen, dass er immer noch auf den anderen Fahrer einredete. Im nächsten Moment hatte das fettige Papier Feuer gefangen. Sie warf es nach hinten zwischen den anderen Müll vor dem Rücksitz. Die Flammen breiteten sich aus.

Renee legte das Feuerzeug ins Fach zurück. Dabei entdeckte sie einen Schlüssel. Sie hoffte, dass sich damit die Handschellen öffnen ließen, und nahm ihn an sich.

In diesem Moment gab Leandro auf und kehrte zum Wagen zurück. Renee steckte den Schlüssel in eine Hosentasche, schloss die Klappe des Fachs und bemühte sich, geradeaus zu schauen und einen völlig unbeteiligten Eindruck zu machen. Hinter ihr griffen die Flammen auf weitere Abfalltüten über ...

Leandro riss die Tür auf. »Dieser alte Sack!«, brummte er und stieg ein. »Er hätte es problemlos schaffen können! Aber nein, er musste seine lahme Kiste beim ersten Aufblitzen des roten Lichts zum Stehen bringen, und jetzt kommt der Zug. Bei dem Tempo sitzen wir hier mindestens eine Woche lang fest.«

Renees Blick folgte den Gleisen, bis sie endlich den Zug sah. Er schleppte sich mühsam wie ein übergewichtiger Asthmatiker dahin, mit höchstens dreißig Kilometern pro Stunde, und die Reihe der Waggons schien sich irgendwo in der Unendlichkeit zu verlieren.

»Man sollte ihm den Führerschein entziehen!«, schimpfte Leandro. »Wenn er einen Autoschlüssel auch nur berührt , gehört er sofort erschossen! Und du kannst deinen Arsch darauf verwetten, dass ich mich freiwillig für diesen Job melden werde!«

Die Tüten brannten knisternd und knackend, aber Leandro war viel zu sehr damit beschäftigt, verbal auf jeden Mitbürger einzudreschen, der die siebzig überschritten hatte. Renee wartete, und ihr Herz schlug immer wilder. Das Feuer wurde größer. Sie wartete noch eine Sekunde und noch eine, und dann ...

»Feuer!« Sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und zeigte auf den Rücksitz. »Feuer! Der Wagen brennt!«

Leandro wirbelte herum und riss verdutzt die Augen auf. Er beugte sich über die Rückenlehne des Fahrersitzes und schlug auf den brennenden Abfall ein. Doch im nächsten Moment zog er seine Hand mit einen schmerzhaften Zischen zurück.

Er stürmte nach draußen und riss die Hecktür auf. Während er mit einem Aktenordner gegen die Flammen vorging, kletterte Renee über die Mittelkonsole und aus dem Wagen was mit Handschellen keine einfache Aufgabe war« Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, rannte sie los.

»He! Komm sofort zurück!«

Er setzte ihr nach. Sie war ihm höchstens drei Schritte voraus, und er hatte sie in kürzester Zeit eingeholt. Als sie am Plymouth vorbeikamen, griff er nach ihrem Arm, verfehlte sie aber. Dann warf er sich auf sie und schlang die Arme um ihre Hüften, so dass sie beide auf die Straße stürzten. Renees Knie schrammten über das Pflaster.

Sie verdrängte den Schmerz, rollte sich herum und versetzte Leandro mit beiden Fäusten einen Schlag gegen den Kopf. Er wich fluchend vor ihr zurück, dann gelang es ihm, ihre Handgelenke unterhalb der Fesseln zu packen. Er zog sie heran, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Seine Augen funkelten wütend, und er hatte die Zähne gefletscht. Es fehlte nur noch etwas Schaum in den Mundwinkeln, dann hätte er wie ein tollwütiger Hund ausgesehen.

Renee lächelte. »Wie möchten Sie Ihren gegrillten Jeep? Gut durch? Oder medium?«

Er drehte sich um. Rauch quoll aus der Hecktür des Wagens. Entweder hielt er Renee fest, oder er versuchte, das Feuer zu löschen. Beides ging nicht.

Mit einem gequälten Stöhnen ließ er Renee los und rappelte sich auf. Er richtete seinen Zeigefinger auf sie. »Bleib, wo du bist!«

Sicher! Klar doch!

Der alte Mann starrte aus dem Seitenfenster des Plymouth und verfolgte mit heruntergeklapptem Unterkiefer, wie Leandro zum brennenden Wagen zurückhastete und ihm zurief: »Passen Sie auf, dass sie nicht wegläuft!«

Renee stand auf und schöpfte neue Hoffnung. Wenn Leandro sich dazu herabließ, Senioren zu Hilfssheriffs zu ernennen, deutete das darauf hin, dass er die Situation nicht mehr völlig unter Kontrolle hatte.

Der Zug war nur noch zwanzig Meter vom Bahnübergang entfernt. Renee zwängte sich zwischen den Schranken hindurch, und mit einem großen Sprung brachte sie sich auf die andere Seite der Gleise. Wenige Sekunden später überquerte der Zug die Straße. Bevor ihr die Sicht versperrt wurde, sah sie noch, wie Leandro sein Hemd auszog, um damit die Flammen zu ersticken. Es war ein wunderbarer Anblick, wie er verzweifelt seinen Wagen zu retten versuchte, aber sie hatte leider keine Zeit, sich ausgiebig daran zu erfreuen.

Sie zog den Schlüssel aus der Tasche, dirigierte ihn ins Handschellenschloss und hielt den Atem an. Sie drehte ihn vorsichtig herum und hörte ein leises Klicken. Die rechte Handschelle ging auf. Anscheinend hielt ihre Glückssträhne an. Sie schloss auch die linke auf, dann warf sie die Handschellen auf eine Seite der Straße und den Schlüssel auf die andere - so weit sie konnte.

Wenn der Zug den Übergang passiert hatte, würde Leandro die Verfolgung wieder aufnehmen - entweder mit seinem Wagen, wenn er es schaffte, das Feuer zu löschen, oder zu Fuß, wenn das Fahrzeug nicht mehr zu retten war. Sie musste in jedem Fall berücksichtigen, dass seine Laune inzwischen den absoluten Tiefpunkt erreicht haben dürfte. Wenn er sie erneut schnappte und irgendwann vor der Tür der nächsten Polizeiwache ablud, musste man möglicherweise auf zahnärztliche Unterlagen zurückgreifen, um ihre Leiche identifizieren zu können.

Ihr erster Gedanke war, auf den Zug zu springen und sich auf diese Weise in Sicherheit bringen zu lassen. Er bewegte sich zwar verhältnismäßig langsam vorwärts, aber für einen derartigen Kraftakt war er immer noch viel zu schnell. Falls Leandro dachte, sie hätte sich für diesen Ausweg entschieden, gewann sie vielleicht einen kleinen Vorsprung.

Sie drehte sich um und lief in Richtung Restaurant, während sie betete, dass sich ihr bald eine neue Fluchtmöglichkeit bot - sehr bald. Sie war zu allem bereit, sie wollte nur nicht nach Tolosa zurück.

John DeMarco saß am Tresen des Red Oak Diner, drei Meilen vor Winslow, Texas. Vor ihm lag die Titelseite der Winslow Gazette, und in einer Hand hielt er eine Tasse mit dampfendem Kaffee. Er nahm einen Schluck von dem starken Gebräu und zuckte zusammen. Er fragte sich, wie viel er noch von diesem Zeug trinken konnte, bevor er an Koffeinvergiftung zugrunde ging.

Er sah aus dem Fenster. Es wurde allmählich dunkler, und die blassen Schatten des abendlichen Zwielichts verbreiteten sich über die Landschaft. Aus der Küche drang ein leises Brutzeln, das sich wie Regen auf einem Blechdach anhörte. Das Geräusch mischte sich mit dem gedämpften Gespräch zwischen einem schlaksigen Jungen und seiner verhuschten Freundin, die sich in einer Sitznische am Fenster eine Portion Pommes frites teilten.

Hier sah es genauso wie in tausend anderen Mehrzweckraststätten in der amerikanischen Provinz aus. Neben dem Restaurant gab es einen kleinen angeschlossenen Laden mit verschiedenen Supermarktartikeln, Action- und Abenteuervideos zum Ausleihen und ein Regal mit Zeitschriften, die sich auf vier Themenbereiche konzentrierten: Jagen, Angeln, Autos und Sex. Sie waren exakt auf die Zielgruppe der harten Kerle, Kautabakkonsumenten und Waffenbesitzer zugeschnitten, die die einheimische Bevölkerung bildeten wobei ungeprüft davon ausgegangen wurde, dass sie tatsächlich lesen konnten. Marva Benton servierte texanische Hausmannskost, die einem garantiert die Arterien verstopfte, während ihr Ehemann Harley an der Kasse saß und den Kontakt zur Bevölkerung pflegte. Im Red Oak bekam man alles, was man brauchte, um sich am Leben zu erhalten, vorausgesetzt, man schraubte seine Ansprüche nicht zu hoch.

In der vergangenen Woche hatte John den kühnen Versuch unternommen, seinen Job zu vergessen, auszuschlafen und sich möglichst schlampig zu kleiden, während er am See hockte, mit einer Angel in der einen und einer Dose Bier in der anderen Hand.

Das war leichter gesagt als getan.

Heute war schon der dritte Abend in Folge, an dem er zum Essen ins Diner kam. Er musste zwölf Meilen fahren, aber das war immer noch besser als selber zu kochen, vor allem, weil es in der Hütte, die er bewohnte, nicht einmal eine Mikrowelle gab. Ganz zu schweigen von einem Herd. Oder einem Fernseher. Oder einem Telefon. Eine Warmhalteplatte, ein Schlafsofa, eine Innentoilette - das war auch schon fast alles. Die Langeweile hatte etwa fünfzehn Minuten nach seiner Ankunft eingesetzt. Also konnte er sich glücklich schätzen, dass er dieses Restaurant entdeckt hatte.

Gönnen Sie sich eine Woche in meiner Hütte, hatte Lieutenant Daniels zu ihm gesagt. Tun Sie einfach mal nichts. Sitzen Sie nur da. Denken Sie nach. Vergessen Sie den Stress.

Was Daniels in Wirklichkeit hatte sagen wollen, war: Sehen Sie zu, dass Sie sich selbst wieder in den Griff bekommen, und kehren Sie erst zurück, wenn Sie es geschafft haben.

Harley tippte ein Exemplar des Magazins Hot Rod und vierzig Liter Benzin ein, für einen Cowboytypen Mitte zwanzig in hautengen Levis und kariertem Holzfällerhemd. Der Kerl schlenderte wieder nach draußen und feuerte unter der Hutkrempe einen Blick auf John ab, der besagte: Ich sehe, dass du nicht von hier bist, also pass bloß auf!

Harley schloss die Registrierkasse und sah John mit einem kumpelhaften Grinsen an. In seinem Mund wechselten sich braune Zähne, Goldzähne und fehlende Zähne ab. »Na, wie steht‘s, John? Wie läuft der Urlaub?«

John wurde bereits vom Personal des Red Oak geduzt, eine Vertraulichkeit, die im ländlichen Texas völlig normal zu sein schien. In Tolosa kannte er nicht einmal die Namen der Leute, die seine direkten Nachbarn waren.

»Langsam«, sagte John.

»Langsam ist doch gut, wenn du dich entspannen willst, oder? Sich ein bisschen von der großen Stadt erholen.«

Der großen Stadt? Darüber musste John lächeln. Tolosa war alles andere als eine bedeutende Metropole. Aber aus Harleys Perspektive musste das bessere Dorf mit den vier Kinos, zwei Einkaufszentren und neunzigtausend Einwohnern gigantisch wie Tokio erscheinen.

»Und was machst du so, wenn du nicht im Urlaub bist, John?«

Er seufzte. Manchmal verhielten sich die Leute ziemlich seltsam, wenn sie wussten, dass sie es mit einem Polizisten zu tun hatten. »Ganz unter uns beiden, Harley - ich möchte lieber nicht über meinen Beruf reden.«

»Was ist so schlimm daran? Schlechte Bezahlung? Überstunden? Zu wenig Respekt?«

Harley hatte soeben das Leben eines Polizisten mit völlig zutreffenden Worten beschrieben. »Von allem etwas.«

Auch wenn sich John über diese Dinge ärgerte, hatten sie im Grunde gar nichts mit seinen gegenwärtigen Problemen zu tun. Kein halbwegs vernünftiger Mensch wurde Polizist und erwartete, dass er reich wurde, nur wenige Stunden arbeiten musste und ständig von allen gelobt wurde. Nein, darauf war John vorbereitet gewesen. Womit er nicht gerechnet hatte, war die himmelschreiende Ungerechtigkeit einer Einrichtung, die angeblich für Recht und Ordnung sorgte.

Nachdem er einen Monat lang ermittelt hatte, war John endlich ein mieser kleiner Mistkerl in die Falle gegangen, der ältere Mitbürger in den Korridoren vor ihren Apartmentwohnungen zusammengeschlagen und ausgeraubt hatte. Nur eins der Opfer hatte sich bereit erklärt, als Zeuge auszusagen - ein buckliger Achtzigjähriger mit röchelnder Stimme, der John erklärte, dass er furchtbar wütend war und sich so etwas nicht mehr gefallen lassen wollte. Einen Tag vor dem Prozess hatte er einen Herzinfarkt und landete als Komapatient auf der Intensivstation des Krankenhauses von Tolosa. Noch am gleichen Tag erwirkte seine Familie, dass ihm der Stecker rausgezogen wurde, womit die Anklage ins Wasser fiel.

Da es nun keinen Augenzeugen mehr gab, schaffte es der Verteidiger, den Geschworenen haufenweise begründete Zweifel einzureden, was die Identität des Übeltäters betraf. John war zum Urteilsspruch in den Gerichtssaal gekommen, und als die Geschworenen den Kerl für unschuldig erklärten, verkrampften sich seine Eingeweide zu einem harten Knoten der Wut und Verzweiflung. Er sagte sich, dass so etwas eben zu seinem Job gehörte. Manchmal hatte man Erfolg, manchmal nicht. Davon ging die Welt nicht unter. Trotzdem kochte es in ihm. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ein von Grund auf schlechter, unzweifelhaft schuldiger Typ, den er hinter Gitter gebracht hatte, nun wieder frei herumlief.

Als er anschließend den Gerichtssaal verließ, sah er den kleinen Mistkerl in der mit Marmor gefliesten Vorhalle. Er grinste wie eine Hyäne und klopfte seinem Anwalt auf die Schulter. Als hätte er ein Stichwort bekommen, drehte er sich um und blickte John in die Augen. Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem selbstgefälligen Grinsen, und seine höhnische Miene schrie lauter, als es Worte vermocht hätten.

Ich habe gewonnen, Arschloch! Und das heißt, dass du verloren hast!

John wäre am liebsten quer durch den Saal marschiert, hätte den Typen gegen eine Wand gedrückt und ihn gewürgt, bis ihm die Augen aus den Höhlen quollen. Doch als Polizist war er nicht zu einer solchen Handlungsweise befugt. Stattdessen suchte er die Herrentoilette auf, um sich abzukühlen. Er atmete ein paarmal tief durch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Als auch das nichts nützte, wirbelte er herum und schlug mit der geballten Faust auf den Papierhandtuchspender ein.

Das war gut!

Es war sogar so gut, dass er es gleich noch einmal machte. Und noch einmal. Und noch einmal. Und die ganze Zeit dachte er daran, wie falsch es war, dass jemand hilflosen Menschen wehtun und sie bestehlen durfte, ohne dass er je dafür bestraft wurde.

Leider war der Blechkasten an der Wand, der John als Ersatz für das Gesicht des Verbrechers diente, nicht allzu stabil konstruiert, denn bereits bei Schlag Nummer fünf löste sich das Ding von der Wand und landete krachend auf dem Boden. Ungefähr zur gleichen Zeit wunderten sich zwei uniformierte Polizisten, was der Lärm zu bedeuten hatte, und suchten eilig die Toilettenräume auf. Zu ihrer großen Belustigung stellten sie fest, dass ein Kollege von ihnen soeben einen wehrlosen Papierhandtuchspender k. o. geschlagen hatte.

Am Ende jenes Tages war Johns heldenhafter Boxkampf gegen ein lebloses Objekt im Polizeirevier zur Legende geworden. Seine Kollegen vergnügten sich damit, ihn zu fragen, ob er als Nächstes gegen einen Abfalleimer antreten wollte. Vielleicht konnte er es sogar gleichzeitig mit zwei Toilettenschüsseln aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt bereute er zutiefst, die Beherrschung verloren zu haben, aber das hatte Lieutenant Daniels nicht davon abgehalten, ihn zu sich zu rufen und ihm einen zwanzigminütigen Vortrag über professionelles Benehmen, das Prinzip der Unparteilichkeit und die Gründe, warum man niemals zur Urteilsverkündung im Gericht erscheinen sollte, zu halten.

Hören Sie auf, sich Gedanken über Schuld oder Unschuld zu machen, DeMarco. Es ist nicht Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ihre Aufgabe ist es, den Abschaum dingfest zu machen, damit andere Leute dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Johns Ansicht zufolge hatten diese Leute von Tuten und Blasen keine Ahnung, aber in Anbetracht der Umstände behielt er diese Meinung für sich.

Polizisten, die sich bestimmte Dinge zu Herzen nehmen, können wir nicht gebrauchen, hatte Daniels gesagt. Weil sie auf seltsame Ideen kommen. Sie schlagen zum Beispiel völlig unschuldige Handtuch Spender krankenhausreif.

Sein Vorgesetzter hatte die Standpauke beendet, indem er John die Schlüssel zu seiner abgelegenen Hütte am Lake Shelton aushändigte und ihm nahe legte, dort eine Weile Urlaub zu machen. John hatte zwischen den Zeilen gelesen. Er hatte keineswegs die freie Wahl, ob er dieses Angebot annehmen wollte oder nicht.

Widerstrebend hatte er die Schlüssel an sich genommen und den Raum verlassen, aber Daniels war noch nicht mit ihm fertig gewesen. Er hatte - natürlich völlig beiläufig erwähnt, dass er vor kurzem seine jährliche Spende an die Joseph DeMarco Foundation überwiesen hatte, um die Stiftung zu unterstützen, die den Familien von Polizisten half, die während des Dienstes zu Tode gekommen waren. Für John war diese Bemerkung im denkbar ungünstigsten Augenblick gekommen.

Vor acht Jahren hatte sich Johns Vater während einer routinemäßigen Verkehrskontrolle eine tödliche Kugel eingefangen. Also war es kein Zufall, dass Daniels ausgerechnet in diesem Moment auf die Stiftung zu sprechen kam, die ihm zu Ehren gegründet worden war. Damit wollte er John auf unsubtile Weise sagen: Was würde Ihr Vater von Ihnen halten, wenn er sehen könnte, wie Sie sich derzeit benehmen?

Für Joe DeMarco wäre es nur der jüngste von zahlreichen Fällen gewesen, bei denen sein Sohn es an Urteilsvermögen vermissen ließ. Wenn der vorbildlichste Cop, der je für das Police Department von Tolosa gearbeitet hatte, noch leben würde, hätte er eine Menge dazu gesagt. Und er hätte es wesentlich drastischer als Daniels formuliert.

Jetzt war John gezwungen, eine Woche lang in einer Hütte auf dem Land dahinzuvegetieren, und man erwartete von ihm, dass er in sich ging und zu einer Erkenntnis gelangte, wie er seine Wutausbrüche nachhaltig unter Kontrolle bekam. Auch wenn er es nur äußerst ungern zugab, war ihm klar, dass Daniels Recht hatte. Und sein Vater hätte ebenfalls Recht gehabt, wenn er in der Lage gewesen wäre, über dieses Thema zu dozieren. John wusste, dass er zu weit gegangen war. Verbrecher aufspüren, verhaften, weitermachen - das war seine Aufgabe. Andere Polizisten hatten keine Schwierigkeiten, diese überaus wichtige professionelle Distanz zu wahren. Warum konnte er es nicht?

Er trank den Rest seines Kaffees aus, bevor er zu einem dunklen Klumpen aus reinem Koffein gerinnen und aus der Tasse kriechen konnte. Harley schenkte nach und sah auf seine Uhr. Er drehte kaum den Kopf, als er nach hinten rief: »He, Marva! John wartet schon seit zwanzig Minuten! Sieh zu, dass du endlich mit dem Steak fertig wirst!«

Eine raue weibliche Stimme, die nach mindestens zwei Schachteln pro Tag klang, hallte laut aus der Küche: »Willst du es schnell oder willst du es gut?«

»Ich will es heute!«, knurrte Harley.

»Halt die Klappe, alter Sack! Du kriegst es, wenn ich es dir bringe!«

Harley verdrehte leicht die Augen, dann beugte er sich über den Tresen und setzte die Miene eines leidenden Märtyrers auf. »Dreiunddreißig Jahre habe ich dieses Weib ertragen. Kannst du dir das vorstellen?«

John kaufte ihm die Mitleidsnummer nicht ab. Er merkte sofort, wenn ihm etwas vorgespielt wurde, und dieses Pärchen hatte es darin zur Meisterschaft gebracht. Wenn sie schlau waren, nahmen sie demnächst Eintritt für ihr Unterhaltungsprogramm. Als John jünger und noch erheblich naiver gewesen war, hatte er gedacht, dass er eines Tages eine Frau finden würde, mit der er sich bis zur Goldenen Hochzeit streiten konnte. Aber je älter er wurde, desto unwahrscheinlicher kam ihm diese Vorstellung vor.

Die Küchentür schwang auf, und Marva erschien. Sie war eine gewaltige Frau, groß wie ein Pferd, trug eine rote Polyester-Hose und ein Hawaii-Hemd. Ihr eisengraues Haar wurde von einem schweißgetränkten Tuch zusammengehalten. Den Teller, den sie in der Hand hielt, warf sie vor John auf den Tresen. Das gegrillte Hühnchensteak verrutschte leicht und ließ Soße über den Tellerrand schwappen. Es roch himmlisch.

»Bitte, Schätzchen«, sagte sie mit einem Lächeln vollendeter Gastfreundlichkeit. »Mein schwachsinniger Ehemann begreift einfach nicht, dass gute Dinge ihre Zeit benötigen.« Sie warf Harley einen angewiderten Blick zu. Wie auf ein Stichwort verzog dieser ebenfalls das Gesicht.

Marva wandte sich wieder John zu. »Dreiunddreißig Jahre habe ich diesen Kerl ertragen. Kannst du dir das vorstellen?«

Mit einem erschöpften Kopfschütteln stapfte sie in die Küche zurück. Harley warf ihr einen flüchtigen Blick hinterher, dann griff er unter den Tresen. »He, Kumpel. Schau dir mal das an!«

Er holte ein Playboy-Heft hervor und schlug es auf. Der Centerfold zeigte eine gesunde Brünette in all ihrer nackten Pracht. »Miss Oktober. Hast du irgendwann in deinem Leben schon einmal so eine Frau gesehen?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte John und bewunderte das Foto. Es war schon verdammt lange her, seit er das letzte Mal überhaupt eine nackte Frau gesehen hatte. Es überraschte ihn, dass er noch wusste, wie so etwas aussah.

»Hast du Miss September gesehen?«

»Nein. Die habe ich verpasst.«

»Huh! Sie war noch besser als diese hier - falls du auf Blondinen stehst.«

In diesem Augenblick kehrte Marva mit einem Tablett voll Besteck zurück. Sie sah, mit welcher Lektüre sich Harley beschäftigte, und verdrehte die Augen. Sie ließ das Besteck auf den Tresen fallen, dann schlug sie den Centerfold und das Heft mit einem entschiedenen Klatsch-klatsch klatsch zu.

»Alter geiler Bock«, murmelte sie. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger von diesen Schweinereien lassen?«

»Ich werde dir zeigen, was Schweinereien sind, Frau«, gab er zurück, und seine Mundwinkel verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. »Später.«

Marva verdrehte die Augen. »Nichts als leere Versprechungen!« Sie wandte sich an John und raunte ihm in deutlich verständlichem Bühnenflüstern zu: »Seit er fünfzig geworden ist, ist das alles, was er mir noch zu bieten hat: Versprechungen.«

Als sie in die Küche zurückkehrte, versetzte Harley ihr einen Klaps auf den ausladenden Hintern. Sie kreischte protestierend, bevor sie durch die Schwingtür verschwand und ihm durch das Fenster mit dem erhobenen Zeigefinger drohte.

»Frauen!«, murmelte Harley. »Wenn man sie nicht beizeiten bändigt, tanzen sie einem auf der Nase herum.«

John war sich nicht ganz sicher, wer wen bändigen musste, aber irgendwo tief in sich spürte er das Zucken eines merkwürdigen Verlangens- Nein, er wollte nicht die Hälfte seiner Zähne verlieren, eine Amazone vom Land heiraten und ein schäbiges Restaurant mitten im Nirgendwo betreiben. Aber manchmal, wenn er nachts allein in seinem Doppelbett lag, hatte er ein so heftiges Verlangen nach irgendjemandem, dass er es beinahe schmecken konnte. Aber ein Polizist, der mit seinem Job verheiratet war, eignete sich nicht besonders gut zum Ehemann. Und das galt erst recht für einen Polizisten, der sofort die Beherrschung verlor, wenn er mit der Realität seines Jobs konfrontiert wurde.

Vielleicht sollte er den Playboy abonnieren und es damit gut sein lassen.

Renee war ein wenig außer Atem, als sie nach dem Lauf durch die kühle Abendluft den Parkplatz des Restaurants erreichte. Sie sah sich noch einmal nach dem Zug um und stellte zufrieden fest, dass er in der Zwischenzeit offenbar nicht schneller geworden war.

Sie überlegte, ob sie sich im Wald hinter dem Diner verstecken sollte. Sie konnte im Zickzack laufen und ihre Spur zwischen den dicht stehenden Bäumen verwischen, aber die Kiefernwälder von Texas nahmen kein Ende. Sie hatte nichts zu essen, kein Wasser, keine Jacke und keinen Orientierungssinn, so dass sie früher oder später den Aasgeiern zum Opfer fallen würde. Außerdem war es schon nach Sonnenuntergang und recht dunkel, und vor Schlangen und Pumas und Riesenspinnen hatte sie fast genauso viel Angst wie vor Leandro. Sich in der Nacht an einen Baumstamm zu kuscheln und kräftig zu beten war auch keine Lösung.

Sie brauchte einen fahrbaren Untersatz.

Auf dem Parkplatz entdeckte sie eine müde alte Corvette, einen verbeulten roten Chevy-Pick-up und einen waldgrünen Explorer mit schwarz getönten Scheiben. Sie unternahm einen Spaziergang quer über den Parkplatz und hielt unauffällig nach steckenden Schlüsseln Ausschau, bis ihr klar wurde, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, sich eines Autodiebstahls schuldig zu machen.

Nein. Sie konnte kein Auto stehlen. Das wäre ein richtiges Verbrechen, und sie hatte sich vor acht Jahren geschworen, dass sie nie wieder so etwas tun würde.

Nun ja. Sie hatte das Auto eines gewissen Kopfgeldjägers angezündet, und es war ein Verbrechen, das Eigentum anderer Leute zu beschädigen. Aber wenn man die Sache aus einer anderen Perspektive betrachtete, hatte Leandros Fahrzeug sowieso eine ständige Feuergefahr dargestellt. Früher oder später hätte es ohnehin so kommen müssen. Eine Zigarettenkippe, die neben dem Aschenbecher landete, und wusch - schon stand der ganze Wagen in Flammen. Renee hatte lediglich etwas beschleunigt, das im Grunde unausweichlich war.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Diese Rechtfertigungsversuche machten sie ganz schwindlig. Sie brauchte einen neuen Plan, und zwar schnell. Bestimmt ließ sich ein Besitzer dieser Wagen überzeugen, sie mitzunehmen ... irgendwohin.

Sie öffnete die Tür zum Diner und trat ein. Ein warmer Schwall und der Geruch nach gegrilltem Allerlei begrüßte sie. An der Kasse steckte ein Jugendlicher gerade sein Wechselgeld ein, während er einen Arm um die Hüfte eines dunkelhaarigen Mädchens gelegt hatte. Die beiden gehörten wahrscheinlich zur Corvette. Es war ein zweisitziger Sportwagen, und es wäre vermutlich etwas zu auffällig, wenn Renee auf dem Dach mitfuhr.

Damit blieben noch der Pick-up und der Explorer.

Den Pick-up ordnete sie dem Farmer im Overall zu, der vor der Kuchenvitrine stand und sich zwischen den Twinkies und den Ding-Dongs zu entscheiden versuchte. Sie wog einen Moment lang die Möglichkeiten ab und zog schließlich den Explorer mit den getönten Scheiben vor. Es gab nichts Besseres, wenn man sich inkognito durch die Gegend bewegen wollte. Durch Anwendung des Ausschlussprinzips kam sie darauf, dass der Eigentümer jenes Fahrzeugs der Mann war, der am Tresen saß und mit seinem Abendessen beschäftigt war.

Von hinten sah er wie ein durchschnittlicher Bauerntrampel vom Land aus. Er trug ein rot kariertes Flanellhemd über breiten Schultern, verschlissene Bluejeans und Stiefel. Die Spitzen seines dunkles Haars berührten im Nacken gerade noch den Hemdkragen, und sie würde ein Monatsgehalt darauf verwetten, dass er nicht einmal einen Kamm besaß. Und er war zweifellos dumm wie die Nacht.

Gut. Sie hatte ein Opfer gefunden. Aber wie konnte sie ihn dazu überreden, sie irgendwohin zu bringen? Hauptsache, weg von hier.

Sie konnte nicht lügen und ihm erzählen, ihr Wagen sei liegen geblieben oder ihr sei das Benzin ausgegangen, damit er sie mitnahm. Wohin? Zum nächsten Telefon? Das befand sich genau hier. Zurück zum Wagen? Sie hatte ja gar keinen. Und wenn Leandro auftauchte, konnte sie nicht erwarten, dass sie die Leute auf ihre Seite zog, wenn sie sagte, dass er der Böse war. Wahrscheinlich hatte er einen Ausweis, auf dem stand, dass er sie überallhin mitzerren durfte. Außerdem hatte er eine große Waffe und ein Gesicht, das den Durchschnittsbürger so sehr einschüchterte, dass er auf der Stelle um zehn Jahre alterte. Und wenn sie jemanden bat, sie vor diesem Kerl zu beschützen, konnte sie genauso gut fragen, ob jemand so freundlich wäre, sie aus dem Maul von Godzilla zu retten.

Wenn sie doch nur mehr Zeit zum Nachdenken hätte!

Sie betete, dass sich von selbst irgendeine Möglichkeit ergab, und setzte sich neben den Mann mit dem Abendessen.

»Hallo!«

Als er ihre Stimme hörte, drehte er sich zu ihr um. Renee blinzelte überrascht. Er war kein Hillbilly. Er war kein Schürzenjäger der Prärie. Nein, auf gar keinen Fall, nicht einmal in ihren verwegensten Träumen.

Sie hatte sich vom ersten Anschein täuschen lassen und ihn für ein Landei gehalten, als er ihr den Rücken zugekehrt hatte, aber jetzt konnte er ihr nichts mehr vormachen. Dieser Mann gehörte genauso wenig in diese Gegend wie sie. Er schien Anfang dreißig zu sein, aber sie hatte den Eindruck, dass er es in diesen dreißig Jahren nicht leicht gehabt hatte. Der Schatten des Bartwuchses einiger Tage lag auf seinen Wangen, aber selbst das konnte nicht über die markanten Züge eines attraktiven Gesichts hinwegtäuschen. Seine Haut war sogar im Oktober noch sonnengebräunt, seine Nase war spitz und sein Unterkiefer kantig. Im Gegensatz dazu wirkten seine Lippen warm und sinnlich, ein überraschendes Detail in einem ansonsten kraftvollen Gesicht. Seine dunklen Augen musterten sie mit unverhohlener Aufmerksamkeit, als wollte er sämtliche Details registrieren und ihr jene vorhalten, die ihm nicht gefielen. Irgendwie schaffte er es in den ersten Sekunden des Blickkontakts, dass sie sich heftig von ihm angezogen fühlte und gleichzeitig zu Tode erschrocken war.

Renee riss sich von seinem Anblick los und sah sich hoffnungsvoll um, aber sowohl der Junge mit dem Mädchen als auch der Farmer waren inzwischen gegangen.

»Ist das da draußen Ihr Wagen?« Ihre Stimme klang wie das Fiepen einer Maus. Sie räusperte sich. »Der Explorer?«

»Ja, das ist meiner.«

Schon wieder diese Augen! Die sie anstarrten. Die in sie hineinstarrten, als könnte er dabei zusehen, wie ihr Gehirn arbeitete. Wenn es tatsächlich arbeitete, könnte es ihr vielleicht eine Idee liefern, wie sie aus dieser Sache herauskam.

Denk nach, denk nach!

Sie spürte einen intensiven Adrenalinschub, der es ihr fast unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was muss eine Frau tun, um die sofortige Aufmerksamkeit eines Mannes zu erlangen?

Ihre Hirnzellen arbeiteten summend die verschiedenen Möglichkeiten ab, wie hundert Suchmaschinen, die gleichzeitig aktiviert wurden. Und alle spuckten das gleiche Ergebnis aus.

Verstohlen atmete sie tief durch, rückte etwas näher an ihr Opfer heran und lächelte. Und hoffte, dass es nicht so falsch aussah, wie es sich anfühlte. »Wohnen Sie in der Nähe?«

»Ja. Zumindest für eine Weile.«

Sie warf einen Blick auf seine Hand. »Sie tragen keinen Ehering.«

»Weil ich nicht verheiratet bin.«

Während er mit der Gabel auf sein Hühnchensteak zusteuerte, strich Renee mit der Fingerspitze über seinen Arm und hinterließ darauf einen Streifen aus Gänsehaut. Seine Hand mit der Gabel erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie schluckte. »Gut. Wollen wir miteinander ins Bett gehen?«